Der Augenblick der Fotografie

Text:

John Berger

Der Augenblick der Fotografie

Alle Texte © John Berger

 

 

[…] Proust kommt zu einer Fehleinschätzung dessen, was die Fotografie ist: nicht so sehr ein Werkzeug der Erin­nerung nämlich, als vielmehr eine Erfindung oder ein Er­satz dieser Erinnerung.

 

S. 77

[…] Erinnerung beinhaltet in gewisser Hinsicht einen Akt der Erlösung. Was erinnert wird, ist vor dem reinen Nichts geret­tet. Was vergessen ist, ist aufgegeben worden. 

 

S. 81

[…] Ein solches Schauspiel hat eine ewige Gegenwart unmittel­barer Erwartung zur Folge: Erinnerung ist nicht mehr nötig oder wünschenswert. Und mit dem Verlust der Erinnerung geht uns auch der fortlaufende Zusammenhang von Bedeu­tung und Beurteilung verloren. Die Kamera enthebt uns der Mühe der Erinnerung. Sie wacht über uns wie Gott, und sie wacht für uns wie Gott. Doch ist kein anderer Gott so zynisch gewesen, denn die Kamera erinnert, um zu vergessen. Susan Sontag weist diesem Gott einen klaren Platz in der Geschichte zu. Er ist der Gott des Monopolkapitalismus.

 

S.82

[…] Eine kapitalistische Gesellschaft braucht eine Kultur, die auf Bildern basiert. Sie muss unentwegt Unterhaltung bie­ten, um zum Kauf anzuregen und den Schmerz der Wun­den zu betäuben, die durch Klassen-, Rassen- und Sexu­alprobleme gerissen werden. Und sie muss unbegrenzte Mengen an Information sammeln, um desto besser die na­türlichen Quellen ausbeuten, die Produktivität steigern, die Ordnung aufrechterhalten, Krieg führen und Büro­kraten mit Jobs versorgen zu können. Durch ihre Fähig­keit, die Realität einerseits zu subjektivieren und ande­rerseits zu objektivieren, entspricht die Kamera diesen Be­dürfnissen in idealer Weise und trägt gleichzeitig zu ihrer Verstärkung bei. 

 

S. 82

[…] Wenn man sich an etwas erinnert, kann man das nicht nur auf eine Weise tun. Das Erinnerte ist nicht einem Endpunkt am Schluss einer Linie vergleichbar. Es gibt verschiedene Möglichkeiten und Stimuli, die alle zu dieser Erinnerung füh­ren und in ihr zusammenkommen. Entsprechend müssen auch Worte, Vergleiche und Zeichen einen Kontext für ein gedrucktes Foto schaffen; das heißt, sie müssen verschiedene Annäherungsmöglichkeiten bezeichnen und eröffnen. Um die Fotografie herum muss ein Radialsystem errichtet wer­den, so dass man sie gleichzeitig unter den verschiedensten Aspekten sehen kann: persönlich, politisch, ökonomisch, dramatisch, alltäglich und historisch. 

 

S. 88

[…]Gleichermaßen ist das fotografierte Abbild des Ereignisses, wenn es als Fotografie vorliegt, Teil einer kulturellen Gestal­tung. Es gehört zu einer spezifischen sozialen Situation, zu dem Leben des Fotografen, zu einem Argument, einem Experiment, einer Art, die Welt zu erklären, einem Buch, einer Zeitung, einer Ausstellung.

 

S. 95

[…] Und jeder, lauscht einem Orakel, auch wenn er in Begleitung ist, für sich allein.

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